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Die Zukunft des Lernens ist völlig anders als Sie sie sich vorstellen!

Mutation der

Grauen Zellen

Die grundsätzliche Struktur des World Wide Web wurde nicht unter der Prämisse ­erbaut, den Benutzern etwas zu lehren, sondern sie zu verbinden und so schnell wie möglich von einem Inhalt zum nächsten zu lotsen. „Das Internet ist von seinem ­Wesen her ein Unterbrechungssystem, eine Maschine zur Ablenkung und Minderung der Aufmerksamkeit. [...] Sich im Internet zurechtzufinden erfordert eine sehr ­intensive Form des Multitasking.“ So muss sich unser Gehirn jedes Mal von Neuem orientieren, wenn der Fokus von einem Thema auf ein anderes gelenkt wird. Dabei wird das Arbeitsgedächtnis schon bei zwei simultanen Aufgaben massiv belastet. „Im ­Internet, wo wir routinemäßig nicht nur mit zwei, sondern mit mehreren geistigen Aufgaben jonglieren, sind die Wechselkosten unvergleichlich höher.“ Und trotz ­dieser immensen Belastung wiegt unser Durst nach immer mehr Informationen schwerer. „So etwas wie gemütliches Browsen gibt es im Netz nicht. Wir wollen so schnell wir unsere Finger und Augen bewegen können, so viele Informationen wie möglich sammeln“, stellt Carr fest.

STOP! Halten Sie kurz einmal an.

 

Lehnen Sie sich einen Moment zurück und überlegen Sie sich, wie sie diese Website bisher konsumiert haben. Haben Sie jedes einzelne Wort gewissenhaft gelesen? Haben Sie alles nur grob überflogen, oder gar einfach nur gescrollt, bis sie unbewusst an einem Gestaltungselement hängen geblieben sind?

MUTIERTES POWER-LESEN

Eine groß angelegte Studie des University College London zum Leseverhalten der Generation Google (junger Menschen, die nach 1993 mit dem Internet aufgewachsen sind) auf Forschungswebsites zeigt, dass Akademiker wie Nichtakademiker gleichermaßen von sprunghaften Überfliegen von so vielen Informationen wie möglich betroffen sind. Die Forscher bezeichnen dieses Verhalten als horizontale Informationsbeschaffung.

 

Sie stellten dabei fest, dass die Besucher der Websites maximal drei Unterseiten öffneten und dann wieder weiter „sprangen“. Dabei verbrachten sie zwischen vier und acht Minuten auf diesen Seiten und kehrten danach meist nie wieder zurück. „Es ist klar, dass die User nicht im traditionellen Sinne lesen, sondern sich neue Arten des Lesens entwickeln, bei denen die ­Benutzer horizontal durch die Titel, Inhaltsverzeichnisse und Abstrakte power browsen, um schnelle Erfolge zu erzielen.“ Diese Erkenntnis beschränke sich jedoch nicht wie vermutet auf die Generation Google, sondern treffe auf alle Benutzer dieser Forschungsplattformen zu.

 

„Wir sind alle die Generation Google, die Jungen und die Alten, der Professor und der Student, der Lehrer und das Kind.“

 

In ihrem Fazit warnen auch diese ­Forscher ausdrücklich vor den Konsequenzen dieser Veränderung, die längst unbemerkt vonstatten gegangen sei und deren Folgen für die Gesellschaft erst noch verstanden werden müssten.

 

Einige Studien bestätigen diese Ergebnisse. So förderte die Befragung von 113 „­gebildeten Personen“ zwischen 30 und 45 Jahren zutage, dass gerade einmal 16 Prozent nach eigenen Angaben noch öfter mit „anhaltender Konzentration“ lesen. Das übrige Leseverhalten sind Variationen des oben Beschriebenen. Von „Suchen und ­Überfliegen“ bis hin zu „nicht linearem“ Lesen. Einer der Befragten stellte fest, dass seine Geduld für das Lesen langer Texte abnehme. „Bei langen ­Artikeln will ich möglichst schnell alles überfliegen und zum Schluss gelangen.“

BEGREIFEN KOMMT VON GREIFEN

Multitasking fördert also eine breit gefächerte Aufmerksamkeit für möglichst viele Einflussquellen zum Nachteil von tiefem fokussierten Bearbeiten einer spezifischen mentalen Aufgabe. Vor dem Hintergrund traditioneller Erziehung würde man vermuten, dass uns das in einer Lernumgebung (und wie oben schon erklärt, ist für unser Gehirn praktisch jede Umgebung eine Lernumgebung) von tiefem, nachhaltigen Lernen abhält. Viele Studien bestätigen diese Befürchtungen. Es scheint so, als sei es nicht nur das, was beim Umgang mit dem Internet auf dem Bildschirm dargestellt wird, was ein tiefes Lernen verhindert. Der Bildschirm und der Computer an sich stellen schon das erste Hindernis für eine Information auf dem Weg zum Gehirn dar. Dabei scheint ein wichtiger Faktor des Begreifens tatsächlich das Greifen zu sein. „Etwa ein Drittel unserer Gehirnrinde dient dem Sehen und ein weiteres Drittel dem Planen und Ausführen von Bewegungen (für alles andere ist das restliche Drittel zuständig).“, schreibt Manfred Spitzer. Alle diese Areale sind jedoch dicht miteinander verwoben.

 

Als Beispiel führt er Fingerbewegungen beim Zählen an, die weltweit viele Kinder beigebracht bekommen. So lernen beispielsweise Kinder in China, im Gegensatz zu allen westlichen Kulturen, mit einer Hand bis zehn zu zählen. Wir nutzen dafür jedoch nur simpel die Anzahl unserer Finger und kommen dabei nur bis fünf, bevor wir unsere zweite Hand und damit unsere zweite Gehirnhälfte einsetzen müssen, da je eine Gehirnhälfte für die Motorik einer Hand zuständig ist.

Wissenschaftler haben auf Grundlage dieses Sachverhalts eine aussagekräftige Studie durchgeführt:

Zwei Versuchsgruppen aus Deutschland und China, im Alter von etwa Mitte zwanzig, wurden 432 Zahlenpaare mit einem Unterschied von 2 vorgesetzt.

1  -  3

45 - 43

17 - 19

Dabei sollten sie jeweils so schnell wie möglich durch das Drücken von Knöpfen angeben, welche der beiden Zahlen die größere ist. Die Wissenschaftler wollten dabei herausfinden, wie schnell ein Informationstransfer zwischen den beiden Gehirnhälften stattfindet und ob hier interkulturelle Unterschiede zu beobachten sind.

 

Die Ergebnisse der Studie sind verblüffend: Es wurde beobachtet, dass deutsche Versuchspersonen bei Vergleichen, die über die Zahl fünf hinausgehen, langsamer wurden. Die chinesischen Probanden hingegen zeigten erst ab der Elf eine Verlangsamung  Die Verlangsamung tritt bei den Gruppen jeweils genau dann auf, wenn beim manuellen Zählen die zweite Hand ins Spiel gekommen wäre. Es gibt also einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Verarbeitungsgeschwindigkeit von Zahlen und der Methode, wie diese Zahlen gelernt wurden. „Die Ergebnisse zeigen damit eine Art Schatten des kindlichen Fingerzählens auf das Rechnen im Erwachsenenalter. [...] Die abstrakten Zahlen, Größen usw. mussten ja irgendwann mit den Fingern erfasst werden und gelangten so ins Gehirn“, schreibt Spitzer.

 

Auch andere Studien haben einen deutlichen Zusammenhang zwischen Lernerfolg und einer manuellen Handlung beim Lernen herstellen können. Die Schlussfolgerung aus diesen Erkenntnissen ist, dass wer zum Beispiel nur mit einem Mauszeiger am Bilderschirm oder mit dem Finger auf einem Touchscreen auf Dinge zeigt anstatt real mit ihnen zu interagieren, angeeignetes Wissen später sehr viel langsamer und nur mit großer mentaler Anstrengung abrufen kann.

 

Selbstverständlich ist es unrealistisch zu fordern, dass jeder Lernvorgang deshalb durch haptisches Erfahren unterstützt werden muss. So etwas ist mit komplexen Sachverhalten, die weit über einfaches Memorieren hinausgehen, wohl kaum effektiv möglich. Jedoch können auf genau diese Weise grundlegende Lernerfahrungen für Lernanfänger geschaffen werden, die das Wissen nachhaltiger verankern.

DER LANGE ARM DES INTERNETS

Viele Autoren, die über die Plastizität des Gehirns und die Auswirkungen des ­Internets auf unsere Denkweise geschrieben haben, kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass sich diese Veränderungen nicht nur auf unser Verhalten in der digitalen Welt beschränken. Es scheint zwar Zentren im Gehirn für Sehen, Fühlen und Riechen, ja sogar für die Verarbeitung verschiedene Gefühle zu geben, es gibt jedoch keine Unterscheidung zwischen einem Wahrnehmungsapparat für die digitale und ­einem für die analoge Welt. Das bedeutet, wir sehen einen Bildschirm mit den gleichen Augen wie ein Blatt Papier, und der Text darauf wird unter anderem von den ­gleichen Zentren im Gehirn verarbeitet. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch auch, dass, wenn das Gehirn durch unseren ständigen Kontakt mit der digitalen Welt transformiert wird, sich das zwangsläufig auf unsere Wahrnehmung der echten, analogen Welt auswirken muss.

 

Bruce Friedman, der einen Medizinblog betreibt, hat seine persönlichen ­Eindrücke zu diesem Sachverhalt geschildert. „Ich habe inzwischen fast vollkommen die Fähigkeit verloren, einen längeren Artikel zu lesen und zu begreifen, ob nun im Internet oder in gedruckter Form“, sagt er. „Ob ich nun online bin oder nicht, mein Gehirn erwartet, dass man ihm Informationen so füttert, wie es das Internet tut: in einer schnell dahinfließenden Partikelflut. Einst war ich Sporttaucher im Meer der Worte. Heute rase ich über die Oberfläche wie ein Typ auf einem Jet-Ski“, ergänzt Carr.

AUF DEM FOTO, AUS DEM SINN

Ständig hört man Klagen, dass die Jugend ohne ihre Smartphones nicht mehr auskomme und nicht mehr im Moment leben könnte, sondern alles irgendwie digital festhalten, teilen oder mitteilen müsse. Oft wird das Bild des Rockkonzerts bemüht, bei dem früher mit Feuerzeugen geschwenkt wurde, wo heute nur noch ein Meer von grell leuchtenden Handy-Displays im Aufnahmemodus zu beobachten ist. Und in der Tat ­haben Wissenschaftler ­mittlerweile das paradoxe Phänomen belegt, dass wir uns weit schlechter an Ereignisse erinnern können, wenn wir sie per Foto dokumentiert haben.

Um das zu untersuchen, führte Linda Henkel von der Fairfield University ­Probanden durch ein Kunstmuseum und bat sie, einige Ausstellungsstücke nur zu ­betrachten, von anderen wiederum Fotos zu machen. Dabei stellte sie fest, dass sich die Probanden weit ­besser an jene Werke erinnern konnten, die sie nur betrachteten, ohne sie digital festzuhalten. Vergleichen wir jene Ergebnisse mit den Erkenntnissen der oben beschriebenen Studien, passt dieses weitere Puzzleteil sehr gut ins Gesamtbild. Wie beim fokussierten Lesen einer Buchseite, ist die kognitive Belastung und somit der Ablenkungsgrad beim simplen Betrachten eines Ausstellungsstückes weit geringer, als wenn man den komplexen Vorgang des Fotografierens noch mit einbeziehen muss. Dadurch wird das Arbeitsgedächtnis nicht überladen und das ­Gehirn kann ­größere Mengen der zum Lernen wichtigen Informationen behalten.

 

Man könnte das Ergebnis dieser Studie jedoch auch anders lesen. Anstatt zu betrachten, welche Informationen die Probanden sich durch das Fotografieren nicht zu merken in der Lage waren, könnte man beleuchten, welche Informationen sie sich durch diesen Vorgang des digitalen Auslagerns von Bildinformation nicht merken mussten und somit wertvollen Speicherplatz im Arbeitsgedächtnis frei ließen. Eine Studie kam nämlich zu dem Schluss, dass wir inzwischen genau solch ein Auslagerungsverhalten gelernt haben. Bei dieser Studie sollten sich die Probanden Wörter aus einer PDF-Datei einprägen. Danach konnten sie sich entscheiden, ob sie die Datei löschen oder speichern wollten, ehe sie die nächste Datei öffneten, um sich dann deren Inhalt einzuprägen. Die Probanden, die sich für das Speichern entschieden, konnten sich nachher zwar schlechter an den Inhalt der ersten Datei erinnern, dafür hatten sie mehr von der zweiten Datei behalten. Daraus schlossen die Forscher, dass „das strategische Abladen von Information in den Computer [...] zu besserem Lernen von neuen Informationen“ führe.

Die vergessene beziehungsweise nicht gelernte Information ist jedoch keinesfalls unauffindbar verloren. Denn eine andere Serie von Studien fand heraus, dass wir uns inzwischen weit besser daran erinnern, woher wir Information bezogen haben, als an die Information selbst.

Dieses Verhalten unseres Gehirns ist ein weiteres Zeichen dafür, dass das Internet mehr und mehr zu unserer externen Festplatte geworden ist. Und scheinbar macht auch das Gehirn selbst keinen Unterschied mehr zwischen dem ­Abrufen von Informationen aus dem Internet und dem Abrufen aus dem Gedächtnis. So wurde inzwischen bewiesen, dass wir nach einer Recherche im Netz oft dem Irrglauben erliegen, uns selbst an die Information erinnert zu haben. Wenn wir dagegen etwas nicht wissen, denken wir automatisch an Computer, weil wir inzwischen instinktiv wissen, wo sich die Information finden lässt, die in unserem eigenen Speicher fehlt.

Wenn ich die Ergebnisse meiner Recherche betrachte, fällt eine Diskrepanz der meisten Studien zu den Auswirkungen des Medienkonsums auf das menschliche Gehirn ins Auge. Der Fokus liegt dort scheinbar auf der falschen Sache: dem ­Lernergebnis oder einem Ergebnis, das auf einem alten Qualitätskriterium ­basiert. Wird zum Beispiel das Verständnis von gedruckten Texten bei Millennials und ­älteren Menschen verglichen, ist das Ergebnis von vornherein klar. Die älteren Generationen, die ihr Gehirn über ihre gesamte Lebenszeit auf die Aufnahme von Informationen durch gedrucktes Wort trainiert haben, sind in dieser Disziplin ­natürlich klar im Vorteil. Man kann nicht die Fähigkeiten zweier Generationen vergleichen, die sich in ihrer bisherigen Lebenszeit mit völlig unterschiedlicher Mediennutzung beschäftigt haben. Durch diese Erkenntnis ist nicht viel gewonnen. Vielmehr müssten Studien durchgeführt werden, die durch eine gemeinsame Basis auch wirklich relevante Erkenntnisse versprechen. Viel aussagekräftiger wäre beispielsweise eine Studie, die die Fähigkeit von Informationsbeschaffung zwischen individuell angeeignetem Wissen und internetbasierter Recherche vergleicht. Welches System der Informationsbeschaffung ist schlicht effektiver, aktueller und – vor allem – verlässlicher? Sind erinnerte Fakten häufiger korrekt, als aus dem Internet bezogenes Wissen? Doch  solch eine Studie konnte ich nirgends finden.

Quellen

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