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Aber wie wirkt sich das alles ganz direkt auf Ihr Wissen aus?

ALLES, UND

MEHR!

“Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit einem Fingerhut einen Eimer füllen; genau das ist die Aufgabe, die sich beim Transfer von Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis ins Langzeitgedächtnis stellt. Die Medien üben einen starken Einfluss auf diesen Prozess aus, indem sie Geschwindigkeit und Intensität des Informationsflusses steuern. Wenn wir ein Buch lesen, ähnelt dies einem tropfenden Wasserhahn, den wir durch unsere Lesegeschwindigkeit regulieren können. Durch unsere volle Konzentration auf den Text, können wir alle oder die meisten Informationen Fingerhut für Fingerhut ins Langzeitgedächtnis leiten und die reichen Assoziationen bilden, die für die Bildung von Schemata so wichtig sind. Im Internet sehen wir uns mit vielen Informationswasserhähnen gleichzeitig konfrontiert, die zudem alle voll aufgedreht sind. Sie hasten von einem Hahn zum anderen, und unser kleiner Fingerhut läuft dabei über. Es gelingt uns, lediglich einen kleinen Teil der Information im Langzeitgedächtnis abzulegen. Was wir dort letztlich speichern, ist auch kein kontinuierlicher, zusammenhängender Strom aus einer einzigen Quelle, sondern ein wildes Gemisch aus verschiedenen Wasserhähnen.”

 

So beschreibt Carr die Problematik mit Multitasking. Sich ebenfalls auf Klingberg berufend erklärt er, dass wir wenn unser Gehirn überfordert sei, Ablenkungen als noch störender empfänden. Laut Carr haben wir, wenn das Arbeitsgedächtnis zunehmend belastet wird, auch zunehmend Verständnisschwierigkeiten von Themen oder Konzepten. Die schwerwiegendsten Ablenkungen für das Arbeitsgedächtnis sind dabei die Lösung irrelevanter Probleme und die geteilte Aufmerksamkeit.

 

Wenn Sie sich nun den Aufbau des Internets vor Augen führen, erkennen Sie unschwer, dass exakt diese beiden Elemente zwei der Grundpfeiler seiner Funktionsweise sind. Ständig wird man dazu ermuntert, auf Links und Buttons zu klicken, vertikal und horizontal zu scrollen oder mit Inhalten zu interagieren. Das alles stellt eine ungeheure Vielzahl von kleinen Problemen dar, die das Gehirn unterbewusst löst. Dabei sind das nur die Entscheidungen in einem Fenster des Computers. Die geistige Anstrengung, die das Arbeitsgedächtnis durch nebenbei laufende Musik, ein Youtube-Video, ein Chat-Programm oder andere geöffnete Browserfenster zusätzlich in Beschlag nehmen, ist dabei noch nicht mit eingerechnet.

All das füllt unser Arbeitsgedächtnis in kürzester Zeit und macht es fast unmöglich, einzelne Informationen zu behalten. Geschweige denn, diese durch intensive Beschäftigung ins Langzeitgedächtnis zu transportieren.

 

Da jedoch ein Prinzip der Neuroplastizität besagt, dass alles, was das Gehirn berührt, es auch verändert, sorgen wir durch unsere Interaktion mit dem Internet täglich stundenlang dafür, dass es sich immer weiter an dessen Funktionsweise anpasst. “Wenn ein solch intensives Training jedoch zu unserem vorrangigen Denkmodus wird, kann konzentriertes Lernen und Denken dadurch beeinträchtigt werden”, schlussfolgert Carr.

Das Problem mit hypertext

In den vergangen 30 Jahren wurde vor allem der Einfluss von Hypertext auf den Lernerfolg genauer untersucht. Dieser Begriff bezeichnet das Vernetzen von Texten durch Querverweise. Gegen Ende des letzten Jahrtausends war die Stimmung gegenüber dem Lernen mit Hypertext geradezu euphorisch, sollte doch die netzartige Struktur des Hypertextes der Struktur des Gehirns sehr ähnlich sein.

 

Inzwischen gibt es jedoch zahlreiche Studien, die eher auf das Gegenteil schließen lassen. Das Verknüpfen von Texten mit Links und Querverweisen steigert weder den Lernerfolg, noch stattet es den Probanden mit zusätzlichem Faktenwissen aus. Stattdessen wird durch die Ablenkung von den Kerninhalten das grundsätzliche Verständnis verhindert. Das Navigieren dieses Informationsnetzes erfordert scheinbar “anspruchsvolle Problemlösungsmechanismen, die vom eigentlichen Akt des Lesens abgekoppelt sind”.

 

So zieht die Kommunikationswissenschaftlerin Dagmar Unz im Jahr 2000 ein recht vernichtendes Fazit und “steht [...] den hochtrabenden Verheißungen über den Einsatz von Hypertext-Systemen im Bildungskontext” sehr skeptisch gegenüber. Sie erklärt sogar die Vision einer Hyperlearning-Revolution für “verblasst”. Kurz darauf bestätigten kanadische Forscher Unz’ Analyse mit zwei Studien:

STUDIE 1: NETZWERK DER GESCHICHTEN

Im ersten Versuch wurde zwei Gruppen ein Text vorgelegt, den sie an einem Bildschirm lesen und verstehen sollten. Die eine Gruppe las einen normalen Text, wie er in einem Buch vorkommen würde und musste nur am Ende eines Abschnittes immer auf “Next” drücken.

A shaft of refracted daylight now lay across the hall. She stopped dead and stared at the hall table; on this lay a letter addressed to her.

next

Die Probanden der zweiten Gruppe bekamen einen Text mit Hyperlink-Markierungen, wie er ständig im Internet vorkommt. Darin konnten sie wie einem Netzwerk hin und her navigieren, wenn sie Details zu einer Information abrufen wollten.

A shaft of refracted daylight now lay across the hall. She stopped dead and stared at the hall table; on this lay a letter addressed to her.

Beide Gruppen waren gezwungen mit dem Text zu interagieren, die Zweite jedoch musste durch die Verlinkungen von mehreren Wörtern aktiv Entscheidungen treffen, um weiter voranzukommen.

 

Die Rückmeldungen der Probanden sprachen im Anschluss eine deutliche Sprache. Drei Viertel der zweiten Gruppe berichteten von Problemen, der Geschichte zu folgen, wohingegen von der Gruppe, die den linearen Text gelesen hatte, nur ein Zehntel der Teilnehmer solche Probleme schilderte. Als repräsentatives Beispiel einer Rückmeldung der Hypertext-Gruppe, bezeichnet ein Proband die Geschichte als “sehr sprunghaft. Ich weiß nicht, ob es durch den Hypertext verursacht wurde, aber ich traf Entscheidungen und plötzlich floss sie nicht mehr richtig, sie sprang irgendwie zu einer neuen Idee, der ich nicht mehr richtig folgen konnte”.

 

Um diese Erkenntnis zu bestätigen, ersetzten die Forscher den ersten, anspruchsvolleren Text mit der sehr leicht verständlichen Geschichte Die Forelle von Sean O’Foalain. Die Ergebnisse waren jedoch sehr ähnlich. Daher kamen die Forscher zu dem Schluss, dass Hypertext scheinbar Prozesse für Aufmerksamkeit fördere, die für das Engagement und Eintauchen in die Geschichte sehr hinderlich seien.

 

Man könnte nun einwenden, dass bei dieser Studie die Geschichten absichtlich durch die Links zerstückelt wurden, um das Verständnis zu behindern. Doch auch in anderen Versuchen wurde der ablenkende Effekt von Hyperlinks in Texten bewiesen.

STUDIE 2: AUF DER WAAGSCHALE

So ließen Forscher der University of Utah ihre Probanden zwei Texte mit gegensätzlichen Meinungen zu einem Thema vergleichen, zwischen denen sie immer hin und her springen konnten, wie wir das ständig auch im Internet tun.

Sie gingen davon aus, dass der direkte Vergleich das Erkennen und Verstehen der Unterschiede deutlich fördern müsste und diese Art des Lesens einen klaren Vorteil gegenüber der Methode der zweiten Testgruppe haben müsste, die die beiden Texte nacheinander durchlasen.

Diese Annahme erwies sich jedoch als falsch. Als die Forscher im Anschluss bei beiden Gruppen das Verständnis der Texte prüfte, schnitt die zweite, linear lesende Testgruppe deutlich besser ab. Die Forscher schlossen daraus, dass die Hypertext-Verlinkungen das Lernen eher behindern als erleichtern. Der Grund dafür sei vermutlich in der zusätzlichen kognitiven Belastung der Probanden zu finden. Womit wir wieder beim Arbeitsgedächtnis und seinem begrenzten Speicherplatz wären. Die unterbewussten Problemlösungen, die das Gehirn im Hintergrund zu erledigen hat und die Entscheidungen zur Interaktion oder Nichtinteraktion, die es daraufhin zu treffen hat, scheinen das Arbeitsgedächtnis derart anzufüllen, dass für das Lösen der eigentlichen Aufgabe, dem Durchdringen der beiden Texte nicht mehr genug Platz übrig bleibt.

STUDIE 3: EINE ARBEIT SIE ALLE zu ENTKRÄFTEN

Um der ursprünglich populäre These, dass Hypertext das Verständnis fördere, endgültig den Wind aus den Segeln zu nehmen, werteten im Jahr 2005 zwei Psychologinnen der Charleston Universität 38 frühere Studien aus, die sich mit genau diesem Thema befassten.

 

Keine Einzige davon bestätigte die ursprüngliche Annahme. Im Gegenteil kamen die meisten zu dem Schluss, dass Hypertext  sogar schädlich für Aufmerksamkeit und Verständnis von Texten wirkt. Besonders im Vergleich zu einer “traditionellen, linearen Darstellung”.

ALLES MUSS REIN!

Auch ich war zu Beginn meiner Arbeit instinktiv der Meinung, eine Überstützung trockener Textblöcke mit verschiedenen multimedialen Inhalten müsse ein Lernergebnis massiv unterstützen, da das Wissen dadurch doch noch viel intensiver durch verschiedene Kanäle ins Gehirn geprägt wird. Je mehr unterschiedlicher Input, desto besser.

Diese Annahme ist inzwischen jedoch ebenfalls von vielen Studien widerlegt worden. “Die geteilte Aufmerksamkeit bei der Multimedia-Nutzung beansprucht unsere kognitiven Fähigkeiten nur noch mehr und vermindert dadurch Auffassungsvermögen und Lernergebnis”, stellt Carr fest. Er belegt das mit zahlreichen Beispielen, von welchen hier eines vorgestellt werden soll, das sich nicht nur mit dem Lesen beschäftigt und deswegen im Speziellen relevant ist.

 

Wissenschaftler der Kansas State University führten in dieser Studie einen recht simplen Versuch durch. Probanden zweier Gruppen wurde ein typischer CNN-Beitrag gezeigt. Einmal mit und einmal ohne die bekannten Newsticker und Informationseinblendungen an den Rändern.

Wie man nun nach der Lektüre der letzten Absätze schon vermuten kann, bestätigte sich die These, dass die Probanden mit den eingeblendeten Zusatzinformation weit weniger Elemente des vermittelten Inhalts behalten konnten und bei den anschließenden Tests sehr viel schlechter abschnitten. “Es hat den Anschein, dass dieses Multimedia-Format die Aufmerksamkeitskapazität der Zuschauer überstieg.”

 

Carr stellt jedoch klar, dass der Einsatz von Bildern zur Verständnisförderung keinesfalls immer schlecht ist. In der Tat hätten Erziehungswissenschaftler festgestellt, dass “sorgsam gestaltete Präsentationen, die audiovisuelle Erklärungen oder Anweisungen enthalten, das Lernergebnis von Schülern und Studenten verbessern könnten.” Es kommt also auf die Qualität der Präsentation an. Das Internet jedoch ist chaotisch aufgebaut. Was hier an Multimedia aufeinandertrifft, ist von einem erziehungswissenschaftlichen Standpunkt aus weder strukturiert, noch sorgsam gestaltet.

Quellen

Shapiro, A.M. and Niederhauser, D.: Learning from Hypertext; Handbook of Research on Educational Communications and Technology, Taylor & Francis, o O., 2004, S. 608.

Unz, D.: Lernen mit Hypertext, Waxmann, Münster, 2000, S. 153.

Miall, D. S., Dobson, T.: Reading Hypertext and the Experience of Literature, In: Journal of Digital Information 1, 2001.

Niederhauser, D. S., u. a.: The Influence of Cognitive Load on Learning from Hypertext, In: Journal of Educational Computing Research 23, 2000, S. 237-255.

DeStefano, D. und LeFevre, J.: Cognitive Load in Hypertext Reading: A Review, In: Computers in Human Behavior 23, 2007, S. 1616-1641.

Carr, N.: Surfen im Seichten, Pantheon, München, 2013

Rockwell, S. C. und Singleton, L. A.: The Effect of the Modality of Presentation of Streaming Multimedia on Information Acquisition, In: Media Psychology 9, 2007, S. 179-191.